🙂 Hallo Gunnar,
ich hab’ mir gestern Abend (2018-04-08) Deinen Videokommentar zu Noam Chomsky’s Buch „Was für Lebewesen sind wir?“ angesehen.
Es ist für mich ehrlich immer wieder erstaunlich, wie rapide Du Literatur “inhalierst”.
Ich komme da kaum mit… [weder bei Deinem Lesetempo noch beim Verfolgen Deiner Buchvorstellungen & Kritiken…]
Chomsky’s “Lebewesen“-Buch hab’ ich jedenfalls (noch) nicht gelesen.
Deswegen kann ich auch nicht auf Anhieb bestreiten oder bestätigen, ob Du ihn da korrekt wiedergibst oder ob Du seine Ideen richtig interpretiert hast, wenn Du ihm unterstellst, er würde in seinem anarcho-syndikalistischen Denkmodell einer perfekten gesellschaftlichen Wirklichkeit “Zwangsmaßnahmen” oder staatliche Institutionen der autoritären Intervention einbeziehen oder voraussetzen.
Wenn das so sein sollte, dass Noam Chomsky den erwünschten Zustand der “Anarchie” über autoritäre “Zwangssysteme” (oder gar über einen reduzierten Staatsapparat) erreichen oder erhalten möchte, dann wäre das eine reichlich widersprüchliche Idee.
Dann hättest Du mit Deiner Kritik an Chomsky wohl (in wesentlichen Punkten) recht.
Allerdings wirkt Deine Argumentation in meinen Augen auch nicht wirklich schlüssig.
Das fällt Dir selbst vielleicht nicht so deutlich auf, aber Du schilderst (bei Minute ~13:01~) ein Szenario, das eigentlich nur dann Sinn macht, wenn man Muster und Kategorien sozialer Interaktion und Vernetzung verinnerlicht hat, die ausschließlich im Paradigma der ökonomischen Verhandlung von Ansprüchen und Pflichten relevant und geläufig sind.
“Wenn es jemanden gibt, zum Beispiel, der so geschickt und klug ist, in seiner Freizeit eine Maschine zu bauen, die eine bestimmte Produktion vereinfacht und billiger macht, und wenn er nun Gehilfen braucht, die ihm bei der Bedienung dieser Maschine zur Hand gehen… Wenn er die dann gerne einstellen möchte und die das auch möchten… Na, es liegt doch einfach im Wesen des Menschen individuell auf solche Lösungen zu kommen, zu experimentieren, zu riskieren, … das zu verhindern würde nur bei einer totalen Umerziehung der Menschen möglich sein.
Also: Wenn dieser Mensch nun eine Maschine baut und ein paar Mitarbeiter hat, die er auch bezahlt , schon hat sich aus dem genossenschaftlichen Syndikalismus ein Privatbesitz an Produktionsmitteln ergeben… Da das nicht sein darf, weil das ja wieder in die Ausbeutung mündet, usw., muss es eben eine Gewalt geben, die den Menschen den Privatbesitz verbietet und die Maschine als öffentliches Eigentum deklariert, also das Kapital vergesellschaftet. Im Gegensatz zum Privateigentum, das die Menschen ja auch selbst schützen können, benötigt öffentliches Eigentum ja immer eine enteignende und verteilende Staatsmacht… Also: Chomsky ist alles andere als ein Anarchist.” (?)
Mir kommt es so vor, als ob Du hier absichtlich (/selbstironisch?) demonstrieren möchtest, wie man sich in gewohnten Mustern der sprachlichen Differenzierung, Beschreibung und Konstruktion der Welt verlaufen kann.
Meistens geschieht das eher unabsichtlich, deshalb kann man das auch niemandem verübeln.
Wir sind eben alle darauf konditioniert in markt-ökonomischen Kategorien und Szenarien zu denken.
Ich würde angesichts Deiner Schilderungen fragen, wie Du darauf kommst, dass es in einer grundlegend freiheitlich und solidarisch vernetzten Gesellschaft überhaupt sinnvoll oder notwendig wäre, dass der geniale Erfinder und Hersteller, einer tollen, innovativen Maschine (nennen wir ihn einfach mal “Johnny“?), Gehilfen, Mitarbeiter oder Handlanger mit Versprechen auf extrinsische Belohnungen anlockt, zur Arbeit manipuliert oder besticht.
Warum soll unser “Johnny” denn jemanden “anheuern”/ “einstellen” oder “bezahlen” und was soll das bedeuten/ was sagt das aus, in gesellschaftlichen Horizonten in denen Menschen gewöhnlich ohnehin freiwillig Arrangements zur solidarischen Kooperation eingehen?
Wenn jemand eine Maschine erfindet, die effizienter, besser, einfacher und schneller Brot backt, als alle Brotbackmaschinen, die es je zuvor gegeben hat, dann erleichtert er damit ja die Arbeit der Menschen, die sowieso freiwillig Brot backen wollen.
Selbstverständlich wird jeder, der sonst erheblich mehr Mühe zum Backen von Brot aufwenden müsste, gerne die neue, bessere Maschine verwenden wollen. Es wird in einer konsequent freiheitlich und solidarisch ausgerichteten Gesellschaftsform also sehr einfach sein, Menschen zu finden, die freiwillig (unabhängig von in Aussicht gestellten Belohnungen) mit der neuen, innovativen, besseren Maschine arbeiten wollen.
Das Problem eines gierigen und machthungrigen, bzw. herrschsüchtigen “Johnny” wäre es, Andere von der freien Nutzung seiner Maschine abzuhalten. Er müsste seine Idee geheim halten und Menschen, die seine Erfindung zur allgemeinen Bereicherung der Gesellschaft einsetzen wollen, irgendwie daran hindern, eine ähnlich effiziente Maschine zu bauen.
Alle, die bisher im Rahmen transparenter, solidarischer Arbeitsteilung und Produktion satt geworden sind, werden wohl auch weiterhin geneigt sein, unabhängig von Lohnversprechen oder ökonomischen Kompensationsleistungen dazu beizutragen, dass auch in Zukunft jeder satt wird, ohne einen Anspruch auf das tägliche Brot ökonomisch verhandeln und rechtfertigen zu müssen.
Und es geht im Leben sicherlich um mehr, als nur ums Satt-Werden. In konsequent freiheitlich und solidarisch arrangierten sozialen Horizonten, werden Menschen im Rahmen freiwilliger Kooperation alles Erdenkliche möglich machen, was Menschen eben als hinreichend wichtig und sinnvoll empfinden, sodass es sich lohnt, dafür freiwillig und selbstbestimmt zu arbeiten. Was Menschen nicht in freizügiger, freiwilliger Kooperation erreichen können, das lohnt es sich demnach auch nicht zu erreichen.
Wenn ich Menschen nicht mehr mit ökonomischen Vorteilen locken oder durch Lohnversprechen an meine Ideen, Zwecke und Zielsetzungen binden kann (oder muss), dann geht es eben darum, Menschen aufrichtig zu begeistern und zu freiwilliger Mitarbeit zu motivieren. “Werben” wird man für den Sinn hinter der Idee, zu deren Verwirklichung man die Arbeitskraft und das Engagement anderer Menschen benötigt.
In konsequent freiheitlich & solidarisch vernetzten sozialen Horizonten entscheiden Menschen wahrhaft freiwillig (das bedeutet: unabhängig von systemisch oktroyierten ökonomischen Anreizen und Notwendigkeiten) für welche Zwecke und Zielsetzungen sie sich engagieren möchten. Die Entscheidung ob, wofür oder für wen man jeweils arbeiten möchte trifft man entweder aus spontaner Begeisterung, aus Enthusiasmus und Sympathie oder eben gemäß rational vermittelbaren ethischen Einsichten. Arbeit orientiert sich am Sinn, statt am Profit.
Manipulative Muster der Prostitution und Ausbeutung greifen letztlich nur da, wo Menschen hungrig und frustriert sind.
Es müsste also einiges schief gehen, damit [freie] Menschen sich plötzlich wieder für in Aussicht gestellte Lohnversprechen oder exklusive Vorteile zu fremdbestimmter Arbeit verpflichten lassen.
Wie soll nun so eine perfekte soziale Utopie (im Sinne “anarcho-syndikalistischer” oder “anarcho-kommunistischer Vorstellungen”) konkret aussehen?
Das wäre vielleicht eine naheliegende Fangfrage, aber im Einzelnen kann und will ich das nicht beantworten.
Interessanter als der Entwurf konkreter, positiver Utopien ist vielleicht, die Frage, was einer Verwirklichung der frommen Idee freiheitlicher, freiwilliger Assoziation und Interaktion eigentlich im Wege steht.
Wir erleben mitunter gravierende Probleme mit politisch legitimierten Machtstrukturen. Wir beobachten dabei das Problem der Machtkorruption und allgemein empfinden wir autoritäre Eingriffe in die Freiheit unserer individuellen Selbstbestimmung als problematisch.
Ich vermute, dass die wesentlichen Probleme, die wir im gesellschaftlichen Status Quo (als Krise, Kriminalität, Machtmissbrauch und Korruption) erleben, im Grunde genommen auf Probleme der strukturellen Infragestellung unserer individuellen Willensfreiheit zurückzuführen sind:
Solange wir lernen, dass wir unsere Ansprüche jeweils in rivalisierender Abgrenzung zueinander, im Bezug auf das abstrakte Kriterium Wirtschaftsmacht verhandeln und legitimieren müssen, verwickeln wir uns in (fundamental) manipulative Strukturen. Die Integrität unserer Motive steht überall grundlegend in Frage, wo unser Denken, Fühlen und Handeln vom Kriterium ökonomischer Macht beeinträchtigt und determiniert wird.
Wenn wir uns mehr gesellschaftliche und individuelle Freiheit wünschen, ginge es also darum, dass wir uns zunehmend unabhängig von Mustern und Ritualen der ökonomischen Kompensation und Rechtfertigung vernetzen.
Die Probleme, die wir erleben/ die Probleme, die wir sinnvoll kommunizieren können, ließen sich im Rahmen konsequent offen und solidarisch ausgerichteter gesellschaftlicher Netzwerke in selbstbestimmter, freiheitlicher Interaktion und Kooperation lösen.
Mir leuchtet es jedoch auch nicht ein, warum freiheitlich orientierte Menschen mit Gewalt verhindern sollten, dass manipulative Strukturen der exklusiven Vermarktung von Waren und Leistungen aufkommen. Solange sich Menschen darauf einlassen, das manipulative Spiel der ökonomischen Verhandlung von Pflichten und Ansprüchen zu spielen, muss man wohl davon ausgehen, dass wir gesellschaftlich nicht reif für einen fundamentalen Paradigmenwechsel sind. Wenn wir mit Zwang oder Gewalt auf unreife Muster der Sozialisation und Interaktion reagieren, zeigen wir dadurch auch nur Symptome emotionaler und charakterlicher Unreife.
Die Gesellschaftsform und -struktur, die wir aktuell erleben, kann man wohl in jedem Fall als Resultat gesellschaftlicher Vernetzung über manipulative Lohnversprechen und strukturelle ökonomische Notwendigkeiten verstehen.
Für gewöhnlich werden Staatsbeamte, Politiker, Polizisten, Richter und Soldaten auch nur über ökonomische Anreize und Notwendigkeiten an die Erfüllung ihrer Aufgaben im Staatsdienst gebunden.
Auch politische Macht wird demnach ökonomisch vermittelt.
Und da Arbeitsverträge und ökonomisch legitimierte Eigentumsverhältnisse ihre universale Geltung und Gültigkeit schließlich erst vor dem Hintergrund einer mittels zentraler Gesetzgebung und Rechtsprechung gegebenen Rechtssicherheit erhalten, kann man davon sprechen, dass wirtschaftliche und politische Macht sich wechselseitig bedingen.
(So gesehen leben wir vielleicht in der “besten aller möglichen Welten”?)
Herrschaftsfreiheit oder “Anarchie” ist für mich jedenfalls kaum vorstellbar, im Rahmen einer universellen Konditionierung auf Muster und Rituale der rivalisierenden Verhandlung von Ansprüchen im Bezug auf das Kriterium Wirschaftsmacht.
Insbesondere die ungleiche Verteilung von Wirtschaftsmacht ist ein Problem, das man kaum in den Griff bekommen kann, weil es hierbei um eine selbstbeschleunigende/ selbstverstärkende Dynamik geht.
Der sprichwörtliche “Teufel” scheißt bekanntlich immer auf dem dicksten Haufen. (/Mt. 25:29)
Als Gegengewicht zur Willkür ökonomischer Machtstrukturen werden sich daher in potenziell vorstellbaren anarcho-kapitalistischen Utopien auch immer wieder zentrale politische Machtstrukturen manifestieren, von denen sich übervorteilte, arme, ausgebeutete und benachteiligte Menschen Schutz und Rechtssicherheit erhoffen.
Disruptive und destruktive Tendenzen ökonomischer Rivalität werden die Idee von Herrschaftsfreiheit oder “Anarchie” zum Scheitern bringen, wenn es denn überhaupt so weit kommen sollte, dass man vor dem Hintergrund ökonomischer Rivalität die komplette Abschaffung politischer Machtstrukturen inklusive zentraler Gesetzgebung, Exekutive mit Gewaltmonopol und einheitlicher Rechtsprechung erwirkt. (Wie?)
Prinzipiell würde sich ein Vakuum politischer Macht nur allzu leicht von der Willkür individueller ökonomischer Machthorizonte füllen lassen.
Wie will man es auch verhindern, dass reiche Menschen oder Unternehmen (quasi-mafiöse) Strukturen aufbauen, in denen sie zahlenden Kunden eine individuell gewünschte Durchsetzung von “Rechtsansprüchen” preisgebunden als exklusive Ware anbieten?
In Reaktion auf die Willkür ökonomischer Machthorizonte werden sich auf kurz oder lang wieder politisch legitimierte Machthorizonte herausbilden.
(Es ist zu erwarten, dass Menschen, die in ökonomischer Rivalität ohne zentrale Gesetzte und Rechtsprechung unter Entrechtung und Willkür zu leiden haben, wohl auch freiwillig Geld in einen Topf werfen — also quasi Steuern sammeln — damit sie sich so etwas wie staatlich garantierte, allgemein gültige Bürgerrechte wieder gemeinsam einkaufen können, wenn das Recht ansonsten eben nur noch als käufliche Ware angeboten wird.)
So werden wir uns gesellschaftlich immer weiter im Kreis drehen, solange wir an kompetitiven Strukturen und Mustern der Vergesellschaftung festhalten.
Vielleicht wirkt dieses Argument schon hinreichend überzeugend, um Menschen in einer fundamental freiheitlich und solidarisch arrangierten Gesellschaft davon abzubringen sich am Aufbau exklusiver ökonomischer Machthorizonte zu beteiligen.
Vielleicht braucht man letztendlich also keine Gewalt, um Menschen vom Ideal der offenen, solidarischen sozialen Vernetzung jenseits von Markt & Staat zu überzeugen.
Was wir mit hoher Wahrscheinlichkeit immer häufiger erleben werden, sind soziale Experimente, die in diese Richtung gehen.
Schließlich geht es um das Problem der ökonomischen Ausbeutung von “Commons”, das sich zunehmend als “Tragödie” erweist. (Der tragische Raubbau an der “Allmende“.)
Im Paradigma der totalen Vermarktung finden wir für das Problem der parasitären Ausschlachtung freistehender Ressourcen wenig plausible Antworten oder Lösungen.
Ein fundamentaler gesellschaftlicher Paradigmenwechsel steht an, weil die parasitäre Dynamik der totalen Vermarktung nicht nur unseren freien Willen/ nicht nur die Integrität unserer Handlungsmotive, sondern auch die Grundlagen unseres Lebens auf diesem Ökosystem (“Mutter Erde”) in Frage stellt.
Wenn wir meinen, dass es uns an Freiheit fehlt, dann geht es darum, den Kopf aus der Kiste der stumpfsinnigen Konditionierung auf manipulative Muster zu heben.
Wenn wir das nicht schaffen, können wir uns großspurige Ideen wie “Anarchie” oder “Herrschaftsfreiheit” (sprichwörtlich) aus dem Kopf schlagen.
Ich werde Dir meinen Kommentar zu Deiner Buchbesprechung bei Gelegenheit mal über Twitter oder facebook zukommen lassen. Wenn Du möchtest/ wenn Du Zeit und Nerven dafür hast, kannst Du darauf, was ich hier geschrieben habe gerne auch antworten.
Beste Grüße! 🙂
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ManU